ATELERIERBESUCH

von Dagmar Walden (Kunsthistorikerin, München)

 

Auf einem hölzernen Drehstuhl sitze ich im Atelier von Petra Amerell. Die Sonne scheint durch die großen Fenster, als seien wir an Bord eines Dampfers auf hoher See. 
Mir gegenüber breitet sich eine weiße Wand aus. Sie trägt farbige Spuren der Bilder, die hier entstanden sind. Reihen von Schrauben in verschiedenen Höhen zeichnen sich ab, an ihnen können die Leinwände zum Arbeiten und zum Betrachten angebracht werden. Erwartungsvolle Leere herrscht, wie auf der Probebühne eines Theaters.

Von Orient und Urwald
Mitten im Raum steht ein breites Holzgestell. Auf ihm drängen sich Weckgläser, gefüllt mit verschiedensten Pigmenten: Kobaltblau und Zinnoberrot, Lehmbraun und Urwaldgrün, leuchtendes Orange, Ocker und Gelb, orientalisches Türkis und karibisches Altrosa. 
Darunter liegen griffbereit Dutzende von Pinseln und Spachteln in unterschiedlichen Größen. Ein Blick umfasst das Arbeitsfeld der Künstlerin, auf dem sich die ganze Farbpalette entfaltet 
– welcher Reichtum und welche Herausforderung.

Der Vorhang hebt sich

Nahebei lehnen kantige, braunrückige Hünen an der Wand, einige von Petra Amerells Bildern, ganz verschwiegen und in sich gekehrt. Jetzt greift sie das erste, trägt es nach vorne, hängt 
es an zwei Schrauben und dreht sich zu mir um. Sie stellt mir den Neuankömmling vor, und wie Teilnehmer einer Entdeckungsreise erkunden wir gemeinsam ihr Werk.

In Gedanken das Meer

Manches Bild erobert mich im Sturm, greift durch die Augen direkt in die Seele, berührt das Herz, bringt mich zum Lachen oder auf tiefe Gedanken.

Es offenbart sich eine abstrakte Welt aus kraftvollen Farben und vielfältigsten Formen. Transparente Farbschleier wechseln mit pastos gemalten Schichten. Pinselhiebe und rhythmische Wellenschläge treffen auf Punkte oder Flecken. Im Spiel unergründlicher 
Blaus meine ich, Spiegelbilder des Meeres und des Himmels zu erkennen.
Eine andere Arbeit ist strahlend hell und heiß wie ein Sommertag. Ich blinzele durch gelbrote Sonnenflecken auf schwankende Blaugrüns und Violetts - einen Zaubergarten, bestehend 
aus einem flirrenden Geflecht freier Linien.
Ganz anders beim nächsten Werk: Versunken in einen Akkord aus Braun- und Grüntönen träume ich von uralter Erde und Waldeseinsamkeit. In manche Stellen des Bildes wurde hineingekratzt, bis farbige Narben zurückblieben, die vom kreativen Prozess des Zerstörens und erneuten Übermalens erzählen.
Und schließlich schmücken Pastelltöne ein langes Querformat, tragen kindliche Unbekümmertheit zur Schau. Windschiefe Quadrate und sorgloses Krickelkrakel tönen lauthals, leichtsinnig, süß.

Im Wechsel des Lichts

So verbringe ich Stunde um Stunde mit Petra Amerells Bildern. Jedes enthüllt in Betrachtung und Gespräch seinen ganz eigenen Charakter. Immer wieder tritt aus der Tiefe der Malschichten Neues und Überraschendes hervor.
Auch im Wechsel der Lichtstimmungen verändern die Bilder ihr Antlitz. Einige Formen, die bisher mehr im Hintergrund wirkten, dringen nach vorne und präsentieren nun verborgene Details, während andere Strukturen im geheimnisvollen Gewebe der Farbräume verschwinden.

Als der Abend sich langsam über das weiße Atelierschiff senkt, nimmt Petra Amerell das 
letzte Bild von der Wand und stellt es zurück zu den anderen. Wir nehmen Abschied, erfüllt und erschöpft wie Tänzer nach einer langen Ballnacht.