Das Bild und sein Betrachter - ein Dialog

 

von Denise Reitzenstein (Historikerin, LMU München)

 

Was will mir dieses Bild sagen? Diese Frage drängt sich bisweilen Betrachtern ungegenständlicher Kunst auf. Für die Künstlerin verbirgt sich hinter dieser Frage eine willkommene Erwartungshaltung, mit der sich das Publikum ihren Bildern nähert. Es setzt instinktiv voraus, die Gemälde träten in einen Dialog mit dem Betrachter. Die Menschen fühlen sich von den Bildern angesprochen. Doch wie bei so mancher Unterhaltung kann es am Anfang schwer sein, die Sprache des Gegenübers zu verstehen. Wie also erschließt sich dem Betrachter die abstrakte Farb- und Formensprache in Petra Amerells Arbeiten? Und welche Art von Gespräch entsteht zwischen dem Bild und der Welt?

Kunst ist Kommunikation. Diese Antwort gab einst Petra Amerells Lehrer auf die Frage, was denn Kunst sei. Auch die Künstlerin macht die Kommunikation zu einem wichtigen Momentum, das sie in und im Umgang mit ihrer Malerei bewegt. Dennoch warten ihre Bilder mit keiner bekannten Sprache auf, die der Betrachter mühelos dechiffrieren und verstehen kann. Wie kann also Kommunikation entstehen?

Petra Amerell lässt heute allein Form und Farbe sprechen. Sie befreite diese Elemente von dem Korsett und den sichtbaren Vorgaben des Gegenständlichen. In ihrer Biographie als Künstlerin war das nicht immer so. In früheren Arbeiten zeichnete und malte sie nach der Natur, d.h. sie setzte sich mit Gegenständlichkeit und Figuration auseinander. Doch obwohl diese Bilder nach und nach abstrakter wurden, blieb der Bezug zum Gegenstand immer sichtbar. Schließlich entschied sich Petra Amerell bewusst und radikal für eine Befreiung vom Objekt. Ohne Vorgabe und gegenständliche Vorstellung entwickelte sie eine neue Bildsprache.

Freie Farben, Flächen, Linien und Strukturen: Ihnen überließ Petra Amerell nun den Raum auf der Leinwand, sie spielten fortan die Hauptrolle. Ein ganz eigener farbiger Bildkosmos entstand. Die Malerin selbst birgt also einen großen Erfahrungsschatz im persönlichen Erleben von Abstraktion: Form und Farbe sind losgelöst vom Objekt.

In unserer Sprache der Begriffe und in unserer Wahrnehmung lassen sich Form und Farbe nur schwer von einem Objekt lösen. Die uns umgebende Welt bietet keine Gelegenheit, eine Form oder Farbe völlig frei von einem Gegenstand zu erleben und darüber zu kommunizieren. Und auch vermeintlich abstrakte Farbansichten hängen von einem Träger oder einer Quelle ab, etwa eine Farbtafel von dem Papier, auf das sie gedruckt ist, oder das farbige Licht von einem Leuchtmittel, das es aussendet.

Bei einem Kunstwerk ist die Situation eine andere. Schon ein Gegenstand - ein Himmel, eine Wiese, ein Auto oder eine Pfeife - ist in einem Bild nie der Gegenstand selbst, sondern nur sein Abbild. Müsste nicht konsequenterweise für das Ungegenständliche dasselbe gelten, nämlich nicht mehr und nicht weniger als eine Art Abbild zu sein? Hier unterliegt das Gemalte nicht denselben Einschränkungen wie die Abhängigkeit der Farbtafel von ihrem Träger oder die des Farbbegriffs von der Sprache. Während ein Wort oder auch ein gegenständliches Bild einen Gegenstand abbildet, ohne selbst der Gegenstand zu sein, geht die ungegenständliche Malerei noch einen Schritt weiter: Sie zeigt Bildelemente, die der Betrachter zwar als in sich schlüssige Komposition wahrnehmen kann - sie stellt jedoch nichts Erkennbares mehr dar. Das Bild besteht aus Farbe auf Leinwand, wie die Künstlerin sie aufgetragen hat, und ist zugleich etwas darüber hinaus, das allerdings nichts abbildet.

Bleiben wir bei dem Beispiel der Farbe: Im Zwiegespräch mit den Bildern Petra Amerells steht der Betrachter vor einer ungeahnten Herausforderung. In der realen Welt sind Farben Eigenschaften von Objekten. In dieser Wirklichkeit lässt sich der Himmel beispielsweise als blau, eine Wiese als grün, ein Auto als rot oder eine Pfeife als braun bezeichnen. Es gibt damit also auch einen unblauen Himmel, eine ungrüne Wiese, ein unrotes Auto oder eine unbraune Pfeife. Farbbezeichnungen sind Etiketten, die eine Unterscheidung ermöglichen, und nicht alle Menschen und Kulturen legen Wert auf die gleichen Etiketten.

Die sprachliche Unterscheidung der Farbe stellt eine Veränderlichkeit des Objektes heraus, wie etwa des Himmels oder der Wiese, oder eine farbige Vielfalt gleichartiger Objekte wie etwa die farbige Ausstattung von Autos oder Pfeifen. Farben im Bild und Farbbezeichnungen in der Sprache benötigen eine Differenz, um als separate Akteure wahrgenommen zu werden. Es kann ein „Gelb“ als Farbbegriff in einer Sprache nur existieren, wenn es sich von etwas abgrenzen muss, vor allem aber, wenn Sprecher ein Interesse an einer Abgrenzung haben und ihre Aufmerksamkeit auf diesen Unterschied richten. Es kann ein „Gelb“ auch als Farbe in einem Bild nur dann ein Verhältnis zu einer anderen Farbe eingehen, wenn es ein Anderes gibt, von dem sich die Farbe unterscheidet. Natürlich kann diese Kommunikation auch über die Grenzen der Leinwand hinausgehen und mit den Farben in der Umgebung des ausgestellten Bildes korrespondieren.

Aber geht das denn überhaupt: Können Farben und Formen in Petra Amerells Bildern eine eigene Sprache sprechen, die von der Welt losgelöst ist? Und wer kommuniziert was? Die Farben und Formen oder die Künstlerin als Schöpferin mit der Entscheidungsgewalt darüber, wann ein Bild fertig ist, wann die Farben und Formen und ihr Verhältnis zueinander stimmen, wann die Farben und Formen nicht nur sprechen, sondern auch die richtige Sprache sprechen oder zumindest ansprechend sind?

Es ist der Betrachter als Zuhörer dieser Sprache, der sich einen Reim darauf machen muss, was diese abstrakten Kompositionen sagen, welche Rolle und welche Funktion sie übernehmen. Der kunstinteressierte, aber nicht selbst kunstschaffende Betrachter mag sich Petra Amerells Bildern zunächst assoziativ zuwenden. Abhängig von der jeweiligen Sozialisation und den jeweiligen persönlichen Erfahrungen mag sie oder er in dieser Ungegenständlichkeit eine Anspielung auf etwas Reales entdecken, die Abstraktion gewissermaßen umkehren: eine grüne Fläche wird wie eine satte grüne Wiese wahrgenommen, ein Farbverlauf wie ein gelb-roter Sonnenuntergang, ein Fleck Blau wie ein blauer Himmel, ein langer, dunkler Farbpfad wie ein düsterer Weg. Bei einer entsprechenden Vorbildung und einem kunstgeschichtlichen Wissen setzt der Betrachter Petra Amerells Bilder vielleicht innerlich in Beziehung zu Werken anderer Künstler und versucht eine Art Einordnung. Womöglich gelingt es ihm oder ihr aber auch, das Bild befreit von jeder Interpretation in sich aufzunehmen. Der Betrachter und das Bild kommunizieren in diesem Fall ohne Worte.

Die denkbaren Assoziationen veranschaulichen, wie biografische und kulturelle Aspekte bei der Betrachtung der Farben und Formen auf den Betrachter wirken können. Aber ist es das, was Petra Amerells Arbeiten kommunizieren? Natürlich sind diese Assoziationen Teil der eigenen Vorstellungswelt des Betrachters und keineswegs die Sprache der Farben und Formen in dem Bild selbst. Diese Vorstellungswelt ist jedoch von Individuum zu Individuum verschieden und von Sozialisation, persönlichen Erlebnissen und kulturellen Einflüssen abhängig. Auch die Aufmerksamkeit für das Phänomen der Farbe und die damit verbundene Bedeutung ist wandelbar, denkt man etwa an den Einsatz von Farbe in der gegenständlichen und in der abstrakten Malerei durch die Jahrhunderte hindurch.

Wie verstehen aber die Kunstschaffenden selbst die Werke anderer Künstler? Wie verstehen Maler Maler? Und was kommunizieren ihnen in den fremden Bildern deren Farb- und Formensprache? Petra Amerell erlebt in diesen Gesprächen ganz anders gelagerte Interessen und sieht ihre Arbeiten mit Fragen konfrontiert, wie das Bild gemacht, wie es aufgebaut ist, wie es sowohl technisch als auch kompositorisch den Zustand erreicht hat, den man letztlich sieht. Sie, die Künstler, die in ihren eigenen Bildern täglich mit der Gestaltung einer Bildfläche ringen, interessieren sich für das Wechselspiel der Bildelemente auch bei anderen Künstlerinnen und Künstlern. Sie verstehen diese Sprache der Farben und Formen auf ihre ganz eigene Weise.

Im Zwiegespräch zwischen dem Bild und der Welt sollte jeder Betrachter also stets gewahr sein, wie unterschiedlich Kunst verstanden werden kann. Wenn der Betrachter in den Dialog mit einem Gemälde tritt, sollte sie oder er dieses Gespräch mit äußerster Sorgfalt führen:
Was sagen die freien Farben und Formen über den Betrachter, wenn sie oder er nach ihrer Bedeutung in den Bildern Petra Amerells fragt? Wie konstruiert sie oder er das Bild erst in diesem kommunikativen Akt? Es lohnt sich deshalb, genau hinzusehen - und hinzuhören.
Denn der Betrachter lernt in diesem Dialog nicht nur das Bildwerk besser kennen - sondern auch sich selbst.